Kooperation statt Kampf: Biologie jenseits von Darwinismus und Kreationismus
Biologie ist die Wissenschaft vom Leben. Und leben können nur Organismen. Die in die Einzelteile vertiefte Molekularbiologie versteht nicht viel von den
Zusammenhängen des Lebens, aber sie ist derzeit bestimmend. In ein Nischendasein abgedrängt, musste sich die eigentliche Biologie, die die Lebewesen selber in den
Blick nimmt, einen extra Beinamen geben: Sie nennt sich heute oft "Organismische Biologie". Aber deswegen, weil sie unzerteilte Organismen erforscht, ist sie nicht
schon "organismisch". Denn in aller Regel leitet sie die Eigenschaften der Organismen aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile her und ist daher eine
reduktionistische Biologie. Das, was ich mit organismischer Biologie meine, ist das genaue Gegenteil: Ich stelle das organismische Prinzip in den Mittelpunkt.
Das heißt, dass die Eigenschaften der Teile (Organe) in erster Linie aus den Systemeigenschaften einer übergeordneten Ganzheit (Organismus) resultieren.
Aus dieser Perspektive ist nicht nur das Individuum als ein Organismus verfasst, in dem die einzelnen Organe sich gegenseitig fördern und das Ganze
zusammenhalten, das auch diese am Leben hält. Nach demselben organismischen Prinzip sind auch überindividuelle Einheiten verfasst: Schwärme sind nicht ein Wettrennen
von Egoisten, sondern sie bestehen aus Individuen, die sich in eine überindividuelle Organisation integrieren und dabei einen Teil ihrer Autonomie an die
übergeordnete Individualität des Gesamtsystems abgeben, welches seinerseits die Einzelindividuen organismisch integriert. Ökosysteme bestehen nicht aus sich
gegenseitig bekämpfenden Individuen, sondern aus zusammenwirkenden Lebensgemeinschaften; die ökologische Sukzession ist aus der Perspektive des Ökosystems als
ein organismischer Regenerationsprozess interpretierbar. Populationen, Arten und höhere systematische Kategorien bilden eine hierarchische Struktur, die ihrerseits
die Eigenschaften der einzelnen Komponenten bestimmt. Die Eigenschaften von Individuen resultieren aus den organismischen Systemeigenschaften der Schwärme, Populationen,
Arten oder Ökosysteme, deren Organe sie sind. Die Natur ist auf ganz verschiedenen Ebenen organismisch und hierarchisch strukturiert. Kampf um´s Dasein und Wettbewerb
sind keine grundlegenden Naturgesetze, sondern genau das, was die organismischen Naturzusammenhänge aushebelt, desintegriert und denaturiert.
Michael Beleites (2014): Umweltresonanz. Grundzüge einer organismischen Biologie. S.14.
Darwin sah sogar die Gestalt eines Baumes als Resultat eines Verdrängungswettbewerbs der Organe: "In jeder Wachsthumsperiode haben alle wachsenden Zweige nach
allen Seiten hinaus zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwachsen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Artengruppen andere Arten in dem großen
Kampfe um´s Dasein überwältigt haben." Hier liegt die entscheidende Wurzel der Entgleisung der Moderne, also der tiefen Beziehungsstörung zwischen Mensch und Natur:
Dass sich Organe desselben Organismus im großen Kampfe um´s Dasein gegenseitig überwältigen; das ist das Prinzip der Krebszelle – das zur Grundlage des kapitalistischen
Wettbewerbssystems wie auch der kommunistischen Klassenkampf−Ideologie gemacht wurde. Wenn selbst die Organe desselben Organismus gegeneinander kämpfen, wenn die Zweige
desselben Baumes nicht zur Bildung einer gemeinsamen Form tendieren, sondern sich gegenseitig zu überwältigen trachten, dann muss man sich nicht wundern über Darwins These
von der "Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um´s Dasein".
Eine solche Interpretation der Natur hat nicht nur der Irrlehre eines innerartlichen Rassenkampfes den Anstrich eines "Naturgesetzes" verliehen und somit
rassistischen Ideologien den Boden bereitet; sie hat auch den Grundstock für die reduktionistische Biologie gelegt: Zunächst schnitt Darwin die Beziehung der Art zu einer
schöpferischen Intelligenz ab, weil er diese als Eigentum religiöser Institutionen missverstanden hatte. Sodann hat er auch die Arten und Rassen aus ihrer Organstellung
im ökologischen Gefüge herausgelöst, um sie als autonome Gebilde in einen gegenseitigen Überlebenskampf zu schicken. Die solcherart aus ihrem organismischen Kontext
herausgeschälten Arten konnten dann in Gefangenschaft und im Labor untersucht werden. In Gefangenschaft und Labor sind die Arten aber nur noch in einer solchen Weise
Arten, wie Blätter in der Salatschüssel Blätter sind.
Michael Beleites (2020) Lebenswende. Degeneration und Regeneration in Natur und Gesellschaft. Manuscriptum Verlag. S. 94f.
Auch wenn in der systemischen Analyse der Begriff "Volksgesundheit" wieder einen Sinn bekommt, sei hier betont: Die Verantwortung, die die Umweltresonanz−Perspektive
nahelegt, ist gerade nicht eine züchterische "Verantwortung" im Sinne von Selektion und Euthanasie, sondern eine Verantwortung für artgemäße, nämlich menschengemäße
Lebensverhältnisse – eine Verantwortung für ein Leben in harmonischen Resonanzbeziehungen auf der sozialen wie auf der ökologischen Ebene.
Michael Beleites (2020) Lebenswende. Degeneration und Regeneration in Natur und Gesellschaft. Manuscriptum Verlag. S. 26.